Auf dem Weg zur digitalen Gemeinde

Author: Eugen El, Leiter der Kommunikation und Digitalisierung, Jüdische Gemeinde Frankfurt am Main

Eugen El, Leiter der Kommunikation und Digitalisierung, Jüdische Gemeinde Frankfurt am Main, hat auf der Dialogtagung des ReCoVirA-Projekts Deutschland am 24. Juni die Gemeinde-App der Jüdischen Gemeinde Frankfurt vorgestellt und damit die Ergebnisse des Forschungsprojekts um eine Perspektive aus der Praxis bereichert.

Es ist ein Pionierprojekt: Seit Februar 2024 bietet die Jüdische Gemeinde Frankfurt eine eigene App an, die kostenlos für Apple- und Android-Geräte erhältlich ist. Die „JG-FFM“ betitelte Gemeinde-App wurde bislang über 1700-mal heruntergeladen. Sie steht allen Nutzern offen, die sich über das Gemeindeleben und das jüdische Frankfurt informieren wollen. Gemeindemitgliedern bietet sie überdies einige zusätzliche Funktionen, die in einem geschützten Bereich zu finden sind.

Die Idee zur Entwicklung einer eigenen App entstand, nachdem unsere Gemeinde im Jahr 2020 ein Dezernat für Digitalisierung eingerichtet hatte, dessen ehrenamtliche Leitung Benjamin Graumann übernahm. Zum Projektauftakt führte eine Web-Agentur einen Workshop mit Gemeindemitarbeitern durch, bei dem übergreifende Ziele erarbeitet sowie konkrete Bedarfe und Zielgruppen identifiziert wurden. 

Nach der Entscheidung für einen Anbieterwechsel wurden zwei weitere Agenturen gebeten, einen App-Prototyp zu entwickeln. Der Software- und App-Entwickler vmapit konnte sich mit seinem auf Vereine, Kommunen und kleine Unternehmen zugeschnittenen Produkt „Appack“ durchsetzen. Vmapit stellte uns eine Testversion der App zur Verfügung, die wir seit 2022 kontinuierlich weiterentwickelten und vervollständigten.

Dabei flossen die Rückmeldungen aus der Testnutzergruppe und einem Workshop mit ausgewählten Gemeindeabteilungen ein. Mehrere Präsentationen im Gemeinderat und der Digitalisierungskommission rundeten das Feedback ab. Am 18. Februar 2024 konnte die Gemeinde-App JG-FFM offiziell vorgestellt werden. Gemeindemitglieder und Multiplikatoren aus der Stadtgesellschaft kamen in der Aula der I. E. Lichtigfeld-Schule im Philanthropin zusammen, um gemeinsam die Veröffentlichung der App zu feiern und mit Digitalexpertinnen und -experten ins Gespräch zu kommen.

Benjamin Graumann sprach ebenso zum Publikum wie Stadträtin Eileen O’Sullivan, Dezernentin für Bürger:innen, Digitales und Internationales. Die Stadt Frankfurt am Main fördert Projekt großzügig. Irina Rosensaft, Leiterin des Fachbereichs Digitale Transformation der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST), hielt einen Keynote-Vortrag zu den Chancen und Risiken der Digitalisierung in der jüdischen Gemeinschaft.

Unsere App JG-FFM konnte vor Ort ausprobiert werden. Mit der App haben die Nutzerinnen und Nutzer unsere Gemeinde immer und überall dabei. Der Kalender bietet einen Überblick über sämtliche Gemeinde-Events und ermöglicht den schnellen Export in den Handykalender. Er liefert auch die aktuellen Gebets- und Schabbatzeiten und informiert über jüdische Feiertage. Dank der regelmäßig verschickten Push-Mitteilungen bleiben die App-Nutzer stets aktuell informiert. Ebenso wie im Kalender besteht dabei die Möglichkeit, zwischen mehreren thematisch abgestimmten News-Kanälen auszuwählen.

Unsere App JG-FFM ist ein Meilenstein auf dem Weg zur digitalen Gemeinde. Von unserem Know-how werden jüdische Gemeinden in ganz Deutschland profitieren können. Entsprechend neugierig verfolgen sie den Fortgang dieses Projekts. Unsere Erfahrungen sind bislang sehr positiv, und auch das Nutzerfeedback ist äußerst ermutigend. Mit dem Release der App und dem Aufbau eines stabilen Nutzerstamms hat unsere Arbeit indes erst begonnen. In den kommenden Monaten und Jahren gilt es, das volle Potenzial unserer Gemeinde-App auszuschöpfen.

App-Download für iOS: https://apps.apple.com/de/app/jg-ffm/id6477564055
App-Download für Android: https://play.google.com/store/apps/details?id=de.android.appack.jg_ffm&pli=1

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Ethnographie und Persönlichkeitsentwicklung

Henry Cremer, Student Assistant, Goethe University Frankfurt

Im Rahmen meiner Arbeit als studentische Hilfskraft am deutschen Teilprojekt konnte ich wiederholt an Feldbesuchen teilnehmen und diese auch eigenständig durchführen. Die dabei gesammelten Erkenntnisse sind äußerst vielfältig und erschöpfen sich nicht im Forschungsschwerpunkt des Projekts.

Dementsprechend steht der Aspekt, welchen ich in diesem Text behandeln möchte, nicht mit dem Forschungsthema im Zusammenhang, sondern ich möchte vielmehr über mich als forschende Person schreiben. Denn durch die Methode der teilnehmenden Beobachtung nimmt der*die Forschende nicht nur eine neue Perspektive gegenüber seinem*ihrem sozialen Umfeld ein, sondern auch auf sich selbst.

Ethnographien laden dazu ein, sich selbst und damit auch die eigene soziale Praxis in einem anderen Licht zu sehen. Als forschende Person bin ich bemüht, meine sozialen Praktiken zu reflektieren und Interaktionen, in welche ich mich im Rahmen des Projekts begebe, zu durchdringen. Dadurch habe ich die Möglichkeit, mit den Routinen meines alltäglichen Handelns zu brechen und neige mehr dazu, mich wesentlich bewusster in sozialen Situationen zu verhalten.

In meiner Position als Ethnograph kann dadurch ein Stück weit die soziale Welt um mich herum entzaubern und ein tieferes Verständnis von den latenten Mechanismen und Strukturen alltäglicher Interaktion bekommen. Hierbei steht die Selbsterkenntnis über die eigenen sozialen Zwänge für mich stets im Vordergrund. Ich bin überzeugt, dass das Erkennen sozialer Strukturen einen Beitrag dazu leistet, diese nicht zwangsläufig zu reproduzieren. Erkenntnis ist dabei ein erster Schritt, von dem sich eine bewusstere und damit mündigere soziale Praxis ableiten lässt.

Ursprünglich banal wirkende Alltagspraxis wird dadurch gewiss herausfordernd, die Forschenden sind ständigen Irritationen ausgesetzt, da sie sich vor jeder Handlung bewusst entscheiden müssen, wie sie sich verhalten wollen und welchen Eindruck sie damit auf ihr Gegenüber vermitteln. Sich dieser Anstrengung zu stellen, erscheint mir für meine Identitätsentwicklung jedoch als etwas Positives. Die Möglichkeit, gewöhnliche Handlungsautomatismen abzurufen, wird eingeschränkt und so bekommt der*die Ethnograph*in ein bewussteres Verständnis von seiner*ihrer Praxis und damit auch von sich selbst.

Die Irritationen können zunächst hinderlich erscheinen, jedoch glaube ich, dass der Versuch der Überwindung, durch die Aufarbeitung dieser, etwa in einem Selbstdiskurs, nicht nur zu besseren Forschungserkenntnissen führen kann, sondern darüber hinaus an Bedeutung für das eigene Selbstverständnis als forschende Person gewinnt. Hierbei ist wichtig, dass es mir nicht um ein tatsächliches Überwinden der besagten Anstrengung geht, sondern vielmehr um ein Hinterfragen dieser. Also: kritische Selbstreflexion um ihrer selbst willen, denn nur daraus kann ein tieferes Verständnis von sozialer Realität resultieren.

Dieses Verständnis sollte im besten Falle nicht theoretischer Natur bleiben, sondern sollte aus den Erfahrungen im Feld direkt auf die Handlungsebene übertragen werden können.

Ich habe während und vor allem nach der Durchführung der einzelnen Ethnographien erst gemerkt, wie selbstverständlich ich als sozialer Akteur bestimmte Handlungen und Gewohnheiten durchführe bzw. befolge. Die Reflexion des Erlebten während des Schreibens meiner Protokolle hat mir dabei besonders geholfen, so habe ich den Eindruck, dass ich durch die intensive Auseinandersetzung mit mir innerhalb der Beobachtungen ein ganz neues Bewusstsein von meiner eigenen sozialen Praxis gewonnen habe.

Beispielsweise habe ich bei den Feldbesuchen in einer christlichen Gemeinde ganz bewusst bestimmte Abläufe und Praktiken erkennen können, aber dadurch gleichzeitig dem Verlauf des Gottesdienstes wesentlich schlechter aktiv folgen können. Also in dem jeweiligen Ritual vorgesehenen Moment aufzustehen oder mit dem Singen zu beginnen, obwohl ich christlich sozialisiert wurde und dementsprechend schon an unzähligen Gottesdiensten teilgenommen habe. Der Versuch der bewussten Teilnahme führt bei mir dazu, dass ich die über Jahre eingeübte Praxis, welche mir zum Automatismus geworden ist, nicht mehr mühelos abrufen konnte, dafür konnte ich aber erheblich bewusster dem Geschehen folgen.

Abschließend möchte ich festhalten, dass die Selbstbetrachtung innerhalb einer teilnehmenden Beobachtung dazu führt, das eigene Handeln als Ethnograph*in stärker zu reflektieren, wodurch die Forschenden in eine andere Beziehung zu ihrer Umwelt treten. Meiner Meinung nach können Ethnographien einen Ausgangspunkt für ein mündiges Teilnehmen am sozialen Leben bilden und somit zu einem Teil von einer emanzipatorischen Identitätsbildung werden, welche ich mir durch und während meines Studiums erhoffe.

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ReCoVirA Deutschland – Zeiten der Erholung?

Gero Menzel, Research Associate, Goethe University Frankfurt

Am 8. April wurden die letzten Corona-Maßnahmen, die FFP2-Maskenpflicht in Krankenhäusern und Apotheken, nicht verlängert. Damit ist Deutschland zumindest politisch in einen post-pandemischen Zustand eingetreten. Der größte Teil des gesellschaftlichen und auch des kirchlichen Lebens ist schon länger zu einer Art ‚neuer alter Normalität‘ zurückgekehrt.

Als wir Mitte März in die Feldphase eintraten, erlebten wir, das deutsche ReCoVirA-Team, ein Feld, in dem die Auswirkungen der Pandemie noch präsent waren. Die Zahlen der Gottesdienstbesucher sind oft niedriger als vor der Pandemie, die Menschen zögern immer noch, sich die Hände für den Friedensgruß zu schütteln, die Hände werden vor der Spendung der Eucharistie desinfiziert und einige andere Hygienemaßnahmen sind noch immer in Kraft. Doch viele ist momentan in Bewegung. Der beliebte Livestream aus der Bischofskapelle in Limburg, der im März 2020 gleich zu Beginn des ersten Lockdowns seinen Anfang fand, wurde nach einem Stream Ostermesse eingestellt. Viele Arten von Veranstaltungen, Gottesdiensten und Zusammenkünften, die während der Pandemie entstanden sind, wurden bereits eingestellt, werden derzeit eingestellt oder an die neuen Gegebenheiten angepasst. Ramadan 2022 war der erste Ramadan seit zwei Jahren ohne Corona-Beschränkungen, Ramadan 2023 bereits der zweite.

Die Gesellschaft und mit ihr die Religionsgemeinschaften scheinen sich auf ein Leben nach der Pandemie eingestellt zu haben. Das bedeutet nicht, dass die Auswirkungen der letzten drei Jahre einfach verschwunden sind, aber in einem Zustand der Erholung, eine etwas begrenzte Übersetzung des englischen Wortes recovery, nach dem sich Akronym ReCoVirA bildet, haben sich die Praktiken verändert. Wie Stephan Lessenich in seinem Buch Nicht mehr normal beschreibt, ist Normalität etwas, das durch alltägliche Praktiken hergestellt wird. Das Gleiche gilt für Prozesse der Wiederherstellung oder der Rückkehr zur Normalität. Das bedeutet, dass wir in diesen Zeiten der Erholung beobachten können, welche Praktiken und Mechanismen in einem post-pandemischen Zustand zur Anwendung kommen, wie sie verhandelt werden und welche Prioritäten sich herausbilden.

Anknüpfend an einige Vorgängerstudien (CONTOC, midi, ReTeOG…) geht es nun um die Frage: “Wie formieren sich Religionsgemeinschaften angesichts aller Herausforderungen, Veränderungen und der in der Pandemie entwickelten Kreativität?”. An diese Frage knüpft an eine andere an, nämlich wie sich die Rolle der Religion im öffentlichen Leben verändert hat und verändert. Der Religionsmonitor 2023 legt nahe, dass die Religion in der Corona-Krise, wenn es Angebote im Umgang mit Krisen geht, nicht mehr den gleichen gesellschaftlichen Stellenwert wie zuvor hat. Es hat sich gezeigt, dass Politik und Medizin im Krisenmanagement und der Orientierung in Krisen von den Bürger:innen als wichtiger wahrgenommen wurden. Religiöse Einrichtungen sind für religiöse Menschen nach wie vor eine wichtige Ressource und eine wichtige gesellschaftliche Institution in Krisenzeiten, aber ihre gesellschaftliche Wahrnehmung scheint sich verändert zu haben.

Die Einschränkungen durch die Pandemie haben die Religionsgemeinschaften gezwungen, sich für digitale Formate und eine digitalisierte Öffentlichkeit zu öffnen. Allerdings sind nicht alle Religionsgemeinschaften online gegangen und nicht alle haben sich mit diesem Umfeld vertraut gemacht. Wird dies insbesondere traditionelle Religionsgemeinschaften in den gegenwärtigen Zeiten multipler Krisen auf einer tieferen Ebene beeinflussen? Wie gehen die Religionsgemeinschaften mit der digitalisierten Öffentlichkeit um, insbesondere die der jüngeren Generationen?

Literature

Churches Online in Times of Corona (CONTOC) (2021). Ergebnisse zur CONTOC-Studie, Sektion Deutschland. Aufbauend auf die erste ökumenische Tagung am 13.4.2021. PDF-Bericht. https://contoc.org/wp-content/uploads/2021/04/Ergebnisse-zur-CONTOC-Deutschland-Tagung-13.04.2021-1.pdf.

CONTOC2 (28. September 2022). Für die evangelischen Kirchen in Deutschland und in der Schweiz. Foliensatz. https://contoc.org/wp-content/uploads/2022/09/CONTOC2-Erste-Ergebnisse.pdf.

Hillenbrand, C., Pollack, D., & El-Menouar, Y. (2023). Religion als Ressource der Krisenbewältigung? Analysen am Beispiel der Coronapandemie. Religionsmonitor: Vol. 2023. Bertelsmann Stiftung.

Hörsch, D. (2020). Digitale Verkündigungsformate während der Corona-Krise.: Eine Ad-hoc-Studie im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland. Evangelische Arbeitsstelle midi. https://www.mi-di.de/media/pages/materialien/digitale-verkuendigungsformate-waehrend-der-corona-krise/f0b254d2b8-1598620182/midi-ad-hoc-studie-digitale-verkuendigungsformate-waehrend-der-corona-krise.pdf

Hörsch, D. (2021). Gottesdienstliches Leben während der Pandemie.: Verkündigungsformate und ausgewählte Handlungsfelder kirchlicher Praxis – Ergebnisse einer midi-Vergleichsstudie. Evangelische Arbeitsstelle midi. https://www.mi-di.de/media/pages/materialien/gottesdienstliches-leben-waehrend-der-pandemie/065d6d852f-163223314/midi_gottesdienstliches-leben-waehrend-der-pandemie.pdf

Lessenich, S. (2022). Nicht mehr normal : Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs. Hanser.

Reimann, R. P & Sievert, H. (2021). Studie zu Online-Gottesdiensten 2021: Update der Befragungsstudie „Rezipiententypologie evangelischer Online-Gottesdienstbesucher*innen während und nach der Corona-Krise“. https://medienpool.ekir.de/A/Medienpool/92419?encoding=UTF-8

Schlag, T., & Nord, I. (2021). Kirche in Zeiten der Pandemie: Erfahrungen – Einsichten – Folgerungen : Einblicke in die internationale und ökumenische CONTOC-Studie. Deutsches Pfarrerblatt. Advance online publication. https://doi.org/10.5167/UZH-217645

Image credit: AI image generated using Leonardo.AI
“An illustration showcasing the use of digital tools, such as smartphones or tablets, by religious leaders or practitioners to connect with their communities virtually”

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