Henry Cremer, Student Assistant, Goethe University Frankfurt
Im Rahmen meiner Arbeit als studentische Hilfskraft am deutschen Teilprojekt konnte ich wiederholt an Feldbesuchen teilnehmen und diese auch eigenständig durchführen. Die dabei gesammelten Erkenntnisse sind äußerst vielfältig und erschöpfen sich nicht im Forschungsschwerpunkt des Projekts.
Dementsprechend steht der Aspekt, welchen ich in diesem Text behandeln möchte, nicht mit dem Forschungsthema im Zusammenhang, sondern ich möchte vielmehr über mich als forschende Person schreiben. Denn durch die Methode der teilnehmenden Beobachtung nimmt der*die Forschende nicht nur eine neue Perspektive gegenüber seinem*ihrem sozialen Umfeld ein, sondern auch auf sich selbst.
Ethnographien laden dazu ein, sich selbst und damit auch die eigene soziale Praxis in einem anderen Licht zu sehen. Als forschende Person bin ich bemüht, meine sozialen Praktiken zu reflektieren und Interaktionen, in welche ich mich im Rahmen des Projekts begebe, zu durchdringen. Dadurch habe ich die Möglichkeit, mit den Routinen meines alltäglichen Handelns zu brechen und neige mehr dazu, mich wesentlich bewusster in sozialen Situationen zu verhalten.
In meiner Position als Ethnograph kann dadurch ein Stück weit die soziale Welt um mich herum entzaubern und ein tieferes Verständnis von den latenten Mechanismen und Strukturen alltäglicher Interaktion bekommen. Hierbei steht die Selbsterkenntnis über die eigenen sozialen Zwänge für mich stets im Vordergrund. Ich bin überzeugt, dass das Erkennen sozialer Strukturen einen Beitrag dazu leistet, diese nicht zwangsläufig zu reproduzieren. Erkenntnis ist dabei ein erster Schritt, von dem sich eine bewusstere und damit mündigere soziale Praxis ableiten lässt.
Ursprünglich banal wirkende Alltagspraxis wird dadurch gewiss herausfordernd, die Forschenden sind ständigen Irritationen ausgesetzt, da sie sich vor jeder Handlung bewusst entscheiden müssen, wie sie sich verhalten wollen und welchen Eindruck sie damit auf ihr Gegenüber vermitteln. Sich dieser Anstrengung zu stellen, erscheint mir für meine Identitätsentwicklung jedoch als etwas Positives. Die Möglichkeit, gewöhnliche Handlungsautomatismen abzurufen, wird eingeschränkt und so bekommt der*die Ethnograph*in ein bewussteres Verständnis von seiner*ihrer Praxis und damit auch von sich selbst.
Die Irritationen können zunächst hinderlich erscheinen, jedoch glaube ich, dass der Versuch der Überwindung, durch die Aufarbeitung dieser, etwa in einem Selbstdiskurs, nicht nur zu besseren Forschungserkenntnissen führen kann, sondern darüber hinaus an Bedeutung für das eigene Selbstverständnis als forschende Person gewinnt. Hierbei ist wichtig, dass es mir nicht um ein tatsächliches Überwinden der besagten Anstrengung geht, sondern vielmehr um ein Hinterfragen dieser. Also: kritische Selbstreflexion um ihrer selbst willen, denn nur daraus kann ein tieferes Verständnis von sozialer Realität resultieren.
Dieses Verständnis sollte im besten Falle nicht theoretischer Natur bleiben, sondern sollte aus den Erfahrungen im Feld direkt auf die Handlungsebene übertragen werden können.
Ich habe während und vor allem nach der Durchführung der einzelnen Ethnographien erst gemerkt, wie selbstverständlich ich als sozialer Akteur bestimmte Handlungen und Gewohnheiten durchführe bzw. befolge. Die Reflexion des Erlebten während des Schreibens meiner Protokolle hat mir dabei besonders geholfen, so habe ich den Eindruck, dass ich durch die intensive Auseinandersetzung mit mir innerhalb der Beobachtungen ein ganz neues Bewusstsein von meiner eigenen sozialen Praxis gewonnen habe.
Beispielsweise habe ich bei den Feldbesuchen in einer christlichen Gemeinde ganz bewusst bestimmte Abläufe und Praktiken erkennen können, aber dadurch gleichzeitig dem Verlauf des Gottesdienstes wesentlich schlechter aktiv folgen können. Also in dem jeweiligen Ritual vorgesehenen Moment aufzustehen oder mit dem Singen zu beginnen, obwohl ich christlich sozialisiert wurde und dementsprechend schon an unzähligen Gottesdiensten teilgenommen habe. Der Versuch der bewussten Teilnahme führt bei mir dazu, dass ich die über Jahre eingeübte Praxis, welche mir zum Automatismus geworden ist, nicht mehr mühelos abrufen konnte, dafür konnte ich aber erheblich bewusster dem Geschehen folgen.
Abschließend möchte ich festhalten, dass die Selbstbetrachtung innerhalb einer teilnehmenden Beobachtung dazu führt, das eigene Handeln als Ethnograph*in stärker zu reflektieren, wodurch die Forschenden in eine andere Beziehung zu ihrer Umwelt treten. Meiner Meinung nach können Ethnographien einen Ausgangspunkt für ein mündiges Teilnehmen am sozialen Leben bilden und somit zu einem Teil von einer emanzipatorischen Identitätsbildung werden, welche ich mir durch und während meines Studiums erhoffe.
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